Autofotografie – Eine Methode zur Förderung der Partizipation im Sozialraum

Ein Beitrag von Christian Braun

 

Als Kulturpädagoge mit dem Schwerpunkt Fotografie und Fotokunst setze ich mich mit der Methode der Autofotografie auseinander. Mich beschäftigt die Frage, in welchem Umfeld unsere Kinder wachsen und unsere Jugend lebt. Allgegenwärtig planen Stadträte Wohnviertelerneuerungen und -umgestaltungen, aber wird dabei auch wirklich an die dort lebenden Kinder und Jugendlichen gedacht? Es ist unklar, inwieweit ihre Lebenswelt in den Planungen miteinbezogen werden bzw. ob die Verantwortlichen wissen, wie diese ihre Umwelt wahrnehmen und was für sie wichtig ist.

Wenn ich draußen spiele, gehe ich meistens dorthin…
Das ist mein Lieblingsspielplatz. Im Turm auf der Stadtmauer fühle ich mich wie ein echter Ritter.

 

Dieser Beitrag beschreibt die Methode der Autofotografie, welche diese Thematik in den Fokus stellt. Er gibt Auskunft bezüglich der Zielgruppe, Grundidee, Vorgehensweise sowie deren Auswertung. Zudem werden weiterführende Gedanken geteilt und ein persönliches Fazit erstellt.

 

Grundidee der Autofotografie

Die Methode der Autofotografie richtet sich in erster Linie an Kinder und jüngere Jugendliche, kann aber auch mit Jugendlichen durchgeführt werden. (vgl. Deinet/Krisch 2002, S. 138). Sie eignet sich hervorragend, um Teilhabe und Partizipation zu fördern.

Erwachsene, Jugendliche und Kinder nehmen ihre Lebensräume unterschiedlich war und bewerten diese dabei ungleich. Während Erwachsene nach funktionalen und rationalen Kriterien bewerten, urteilen Kinder und Jugendliche oft anders. Bei der Autofotografie handelt es sich um ein spielerisches Verfahren, welches einen Einblick in den Sozialraum, sowie in die speziellen Sichtweisen von Kindern und Jugendlichen ermöglicht. Bei dieser Methode lichten diese ihre alltägliche Umgebung ab und kommentieren anschließend die entstanden Bilder. Die Auswahl der abgelichteten Objekte zeigt die subjektive Perspektive von ihnen auf und lässt die alltägliche Umgebung aus ihrem eigenen Blickwinkel plastisch werden. (vgl. Krisch 2009, S. 115) Ziel ist es, Eindrücke zu sammeln, was Kinder und Jugendliche in ihrer Lebenswelt wichtig finden. Zudem wird die Aufmerksamkeit auf deren eigenen Interpretation gelegt. (vgl. Spiegel 1997, S. 191)

Hierher gehe ich nicht gerne spielen…
Eigentlich ist der Spielplatz fast neben unserer Wohnung. Es gibt aber nur diese eine Wippe und die ist auch schon fast kaputt.

 

Vorgehensweise

Die Kinder und Jugendlichen erhalten den Auftrag, Personen, Dinge und Umgebungen zu fotografieren, die etwas von ihnen selbst ausdrücken oder Teil von ihnen sind. Die Einführung kann dabei mit einer Geschichte ansprechend gestaltet werden, um den Arbeitsauftrag nachvollziehbar und eindeutig zu halten (vgl. Spiegel 1997, S. 191).

Als Einstieg dient zum Beispiel die Grundidee eines bekannten Kinderliedes: Die Tante aus Marokko kann nicht kommen, möchte aber dennoch wissen, wo ihre Nichte/ ihr Neffe lebt und stellt ihr/ihm bestimmte Fragen. Sie bittet zudem darum, diese fotografisch darzustellen, da sie ihre Sprache nur schwer versteht.

Ziel ist es, eine Fotogeschichte zu erstellen, die etwas über das tägliche Leben der Kinder und Jugendlichen und deren Persönlichkeit aussagt. Die Teilnehmer*innen erhalten einen Fotoapparat, den sie für einen verabredeten Zeitraum selbständig benutzen dürfen, ein Rückgabezeitpunkt wird vorab von den Pädagog*innen festgelegt. So können die Kinder und Jugendlichen auch zu Hause fotografieren. Nach Ablauf der Frist werden die Kameras und Bilder von den Pädagog*innen entgegengenommen und die Fotos entwickelt. Bei einem zeitnahen, verabredeten Treffen wird dann über die Bildserie gesprochen. An dieser Stelle bekommen die Kinder und Jugendlichen Raum um ihre Fotos erläutern und interpretieren zu können. Eine Aufzeichnung der Auswertungsgespräche wird dabei angestrebt. (vgl. Spiegel 1997, S. 191)

Dies Orte dürfen niemals verändert (zugebaut abgerissen usw.) werden…
Hinter der Kirche spiele ich mit meinen Freunden immer Fußball. Der Platz ist echt groß und wir haben hier richtig viel Platz. Hoffentlich verbietet uns hier keiner das Fußballspielen, wir passen auch immer auf.

 

Ursprünglich war die Methode der Autofotografie mit Einwegkameras und schriftlichen Dokumentationen konzipiert. Gegenwärtig sind die verschiedenen Möglichkeiten der digitalen Fotografie sowie die Bildbearbeitung Teil der Jugendkultur geworden. Dies lässt sich entsprechend aufgreifen (vgl. Krisch 2009, S. 116 f.) und die Aufgabenstellungen per Handy oder Digitalkamera umsetzen.

Folgende Fragen können als Leitlinie für die Fotostrecke gelten (Deinet/Krisch 2002, S. 140):

  • Wenn ich draußen spiele, dann gehe ich meistens dahin…
  • Hierher gehe ich nicht gerne spielen…
  • Dies Orte dürfen niemals verändert (zugebaut abgerissen usw.) werden…
  • An diesen Orten nerven uns die Großen…
  • Hier würde ich gerne spielen, darf es aber nicht (verboten, die Erwachsenen vertreiben uns usw.) …
  • Wenn es draußen dunkel wird, habe ich ein bisschen Angst, wenn ich hier vorbei muss…

 

An diesen Orten nerven uns die Großen…
Ich spiele mit meinen Freunden auch gerne Basketball. Aber immer, wenn wir mittendrin sind und es richtig Spaß macht, kommen die Großen und wollen auch spielen. Wir müssen dann immer gehen.

 

Auswertungsmöglichkeiten

Die Auswertung dieser Methode findet in einem Plenum statt, in dem die Fotografien der Kinder und Jugendlichen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. So kann zum Beispiel die fotografische Perspektive thematisiert werden. Trat der/die Fotograf*in nah an sein Motiv heran oder lichtete er/sie es aus der Ferne ab? Je nach Fragestellung kann dies von großer Bedeutung sein. Zudem kann die Integration des Bildes in den Fokus rücken oder die Selbstrepräsentative des/der Fotograf*in betrachtet werden. Außerdem kann besprochen werden, welche Aktivitäten das Bild vermittelt und ob es für den/die Fotograf*in eher einen symbolischen Wert besitzt. Auch der Reflexionsgrad des Bildes kann näher betrachtet und der Erinnerungswert der Fotografie geklärt werden. (vgl. Spiegel 1997, S. 192) Über Bildbesprechungen können Fotografien an Tiefe gewinnen. Zudem gibt man den Teilnehmer*innen einen Interpretationsspielraum, der für die Pädagog*innen für die Sozialraumanalyse äußerst aufschlussreich sein kann. Es ist davon auszugehen, dass die Kinder und Jugendlichen den abgebildeten Orten, Personen und/oder Gegenständen eine große Bedeutung zuweisen. Aus diesem Grund kann eine detaillierte Auswertung der Gespräche über die Spiel- und Streifräume der Kinder und Jugendlichen Antwort geben. (vgl. Spiegel 1997, S. 192)

Hier würde ich gerne spielen, darf es aber nicht (verboten, die Erwachsenen vertreiben uns usw.) …
Der Klostergarten ist ein richtiger Irrgarten. Jeder Weg führt woanders hin und endet oben, auf dem Berg, an der Stadtmauer. Dort sieht man über die ganze Stadt. Wir dürfen hier nicht spielen, weil die Erwachsenen ihre Ruhe wollen und auf den Bänken sitzen. Es ist auch verboten zu laufen.

 

Kritische Anmerkungen zur Zielgruppe

Einen Punkt der beschriebenen Methode der Autofotografie betrachte ich persönlich jedoch kritisch.

Ursprünglich wird empfohlen, Teilnehmer*innengruppen zu wählen, die sich bereits kennen, da sich die pädagogische Vor- und Nachbereitung leichter gestalten (vgl. Krisch 2009, S. 115) und offene Situationen zu unverbindlich sind. Laut Deinet ist die Gefahr groß, dass auf diesem Weg keine Gruppendiskussionen zustande kommen. Somit können auch keine Ergebnisse produziert werden. (vgl. Deinet 2009, S. 79) Aus denselben Gründen wird die ideale Gruppengröße zwischen fünf und zehn Mitgliedern beschrieben. (vgl. Deinet/Krisch 2002, S. 138)

Ich teile zwar die Ansicht, dass sich unter den genannten Umständen die Arbeit leichter gestalten kann. Zeitgleich vertrete ich aber die Meinung, dass dieses Vorgehen zu Lasten der Aussagekraft der Methode geht. Ich bin mir sicher, dass sich diese auch mit Gruppen durchführen lässt, die sich vorher nicht kennen. Da in der Durchführung jeder für sich arbeitet und nur die Vor-, und Nachbereitung sowie ggf. die Präsentation im Plenum erfolgen, kann nach meiner Erfahrung, mit Hilfe guter Leitungsfähigkeiten mit heterogenen Gruppen sogar ein aussagefähigeres Sozialraumbild abgegeben werden. Jugendliche unterschiedlicher Gruppen halten sich eher an differenzierten Orten auf als Teilnehmer von gleichen Cliquen. Dies spiegelt sich dann auch in den Fotografien wider.

Wenn es draußen dunkel wird, habe ich ein bisschen Angst, wenn ich hier vorbei muss…
Am Busbahnhof ist es manchmal unheimlich. Viele Erwachsene verbringen hier den ganzen Tag und sind auch abends da. Allein ist mir meistens unwohl, wenn ich vorbei muss. Am Abend, wenn es schon dunkel wird, habe ich manchmal sogar Angst.

 

Weiterführende Gedanken und Fazit

Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass sich die Methode der Autofotografie hervorragend dazu eignet, um einen detaillierten Einblick in die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen gewinnen zu können.

Zudem fördert sie die Teilhabe und Partizipation der mitwirkenden Kinder und Jugendlichen. Mit wenigen Mitteln kann ein flächendeckendes, aussagekräftiges Bild eines Stadtviertels aus Sicht der dort lebenden Kinder und Jugendlichen aufgezeigt werden. Durch das Fotografieren und die Bildbesprechungen werden sie für ihren Sozialraum sensibilisiert und können motiviert werden, sich politisch aktiv zu beteiligen.

 


Christian Braun

Christian Braun ist Heilerziehungspfleger in einem integrativen Kinderhort. Er ist Kulturpädagoge mit dem Schwerpunkt Fotografie und Fotokunst und Student der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit


 

Quellen

Deinet, Ulrich (2009): Methodenbuch Sozialraum, in: ders. (Hrsg.), 1. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Deinet, Ulrich / Krisch Richard (2002): Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit. Methoden und Bausteine zur Konzeptentwicklung und Qualifizierung, 1. Auflage. Opladen: Verlag Leske und Budrich

Krisch, Richard (2009): Sozialräumliche Methodik der Jugendarbeit. Aktivierende Zugänge und praxisleitende Verfahren, 1. Auflage. Weinheim und München: Juventa Verlag

Spiegel von, Hiltrud (1997): Offene Arbeit mit Kindern – (k)ein Kinderspiel. Erklärungswissen und Hilfen zum methodischen Arbeiten, 1. Auflage. Fulda: VOTUM Verlag GmbH

 

Alle Fotos von Christian Braun

Die Bilder zeigen Beispiele, wie Kinder oder Jugendliche die Autofotografie einsetzen können.

Sep 8th, 2021 | By | Category: Beispiele für Fotoprojekte

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